Über Ungarn und über Kunst

(JÁNOS KENEDI, Budapester Rundschau, Budapest, 26 April, 1968, p. 10.)

— by JÁNOS KENEDI

Eine Woche lang hielt sich eine führende Persönlichkeit der europäischen Bildhauer-Avantgarde in Budapest auf: der aus Ungarn stammende, in Rom lebende Amerigo Tot, um seine repräsentative Ausstellung vorzubereiten. Ende der zwanziger Jahre verliess er seine Heimat, seitdem ist es jetzt sein erster Besuch. Dennoch ist sein Kontakt zur modernen ungarischen Kunst besonders eng. Wieso? „Ich möchte meine Antwort zur Anekdote verdichten. Vor behilflich sein. Und auf diese Weise kenne ich einen gewissen Teil der zeitgenössischen ungarischen Kunst. Freilich auch über den Klatsch, über das Murren, nicht selten über die groben Bezichtigungen seitens der Fachkollegen: sie sind meine Wegweiser in den dunklen Engpässen der künstlerischen Öffentlichkeit. Daher kenne ich die Zusammenschlüsse, die befreundeten oder verfemten Lager der gleich oder gegenteilig gesinnten Maler und Bildhauer." Einigen Jahren, an einem schwülen Sommertag, klingelte, bei mir das Telefon. Eine Brummstimme erklärte, den Bidhauer Imre Tot sprechen zu wollen. Ich sagte, das wäre ich. Und ich bin Tibor Vilt aus Budapest, lautete die Antwort. Herrlich, meinte ich, wo bist du? Hier in Rom, auf irgend einem Platz. Dann nimm ein Taxi, meinte ich, und komm sofort. Das sei aber nicht so einfach, ungarische Tauristen hätten es nicht so leicht, klärte mich Vilt auf. Ich beruhigte ihn: er könne getrost ein Taxi nehmen, ich werde es bezahlen. So geschah es. Wochenlang arbeiteten wir gemeinsam in meinem Atelier: wir verstanden einander aus den Bewegungen, wir diskutierten über jede Form, hatten Krach wegen jedes Spachtelzuges. Als Vilt die Rückreise antreten wollte, fragte ich ihn: ,Sag mal, Tibor haben wir uns auch früher schon gekannt, haben wir uns je getroffen?' ,Nie im Leben', antwortete Vilt. So etwa geht das. Kontakt mit Landsleuten Mein Atelier in der Via Margutta in Rom steht meinen Landsleuten stets offen. Wer mich kennenlernen will, kommt, kann bei mir arbeiten, so lange er will. Meine Gäste schicken mir dann Kataloge von ihren Budapester Ausstellungen und schreiben von ihnen — damit revanchieren sie sich. Auf diese Weise kannte ich Vilt bereits vor seinem Anruf und wusste, seine Kunst sei der meinigen verwandt. Auch jetzt bin ich hier, um sein Material für die Biennale zu ordnen: ich möchte es arrangieren, oder doch mit meinen Ratschlägen „Ich höre, Sie hätten die große diesjährige Nationalschau der ungarischen Kunst gesehen. Was ist Ihr Eindruck über diese Gesamtausstellung?" „Es ist nicht leicht, diese Frage genau zu beantworten. Einerseits wäre es billig, über das Einheitliche, das Zusammenfassende zu sprechen, das diese Ausstellung zeigt, andererseits sollten die einzelnen. Werke und Künstler besprochen werden. Ich fand, die Ausstellung sei ein rundes, einheitliches, abgeschlossenes Ganzes. Vielleicht sogar zu einheitlich, zu ähnlich, Mehr als hundert Künstler können, sofern sie aufrichtig sind, nicht so ähnlich denken. Ich erwartete mehrere Richtungen, Suchen nach Wegen, bereits aufgrund dessen, was ich bisher kannte: ich erwartete nuanciertere Ausdrucksformen, feinere und gröbere gleichwohl. Und auch falsche Töne. Auch Fehlgriffe. Ich glaube, ein Künstler dürfe eine falsche Intonation nicht scheuen, denn er wird, sobald er sie los wird, auf der Suche nach dem Reinen sich selbst finden. Und ein guter Irrtum kommt einem guten Griff gleich. In der Ausstellung sah ich fast nur Entfaltetes, Gediegenes -und Zufriedenes. Das erinnert mich immer an den dummen Kaiser, der seine schön singende Nachtigall mit gesutzen Flügeln in einen Kafig sperrte, weil er nur jene schönen Töne hören wollte die er ihr beigebracht hatte. Sie aber, als Künstler, müssten wissen: das Lied ist wichtiger, als die Stimme. Vor anderthalb Jahren hat man sich diese Sache — falscherweise — bei ihnenumgekehrt vorgestellt, und die Nachwirkungen dieses Missgriffes sind auch heute zu erkennen. Über die einzelen Werke und Künstler kann ich mich nicht aussern: die ich kenne, kenne ich alle über bessere Werke als die ausgestellen. Diese waren aber wahrscheinlich bereits früher ausgestellt" Bauhaus-Studium „Sie absolvierten seiner Zeit zwei Semester im Bauhaus. Bei wem studierten Sie, was haben Sie aus diesem Erlebnis bewahrt? „Blicke ich zurück auf mein. Leben, meine ich, meine Weltanschauungsweise fixierte sich bei meinem Bauhaus-Studium. Ich arbeitete in einer Gruppe mit Klee (damals wollte ich Maler werden), dem ich auch in moralischer Hinsicht das meiste verdanke. Er war ein unsagbar aufrichtiger, reiner Künstler, mit anständig dialektischer Denkweise, interessiert an allen Erscheinungen, offen, alles aufzunehmen und scheute sich nicht, auch etwas zu verwerfen. Von ihm lernte ich, dass der Qualität der Vorrang gebühre, allen anderen Gesichtspunkten entgegen, und auch, dass man das fachliche Können über jeden klügelnden Dunst stellen muss. Ich war ein Schüler Moholyi-Nagy, und fühle mich auch heute als sein Nachfolger. Seine konstruktive Weltauffassung, seine funktionsbedingte Kunst habe ich für immer in mich aufgenommen: ihm verdanke ich mein Verständnis für die moderne Materialbeihandlung. Er experimentierte mit den verschiedensten Stoffen: er machte Kunststoff-Kollagen, Foto-Zeichnung-Applikationen, befasste sich mit verschiedenen neuen Retimfüllelementen. Durch seine Werke erfaßte ich das Zeitgemäße der Stoffe unseres Jahrhunderts: heute arbeite ich kaum in Stein, Marmor oder ‚romantischer' Bronze, meine Lieblings rohstoffe sind Eisenbeton und Zement". „Während der Hortyzeit in den zwanziger und dreissiger 'Jahren in Ungarn zogen zahlreiche junge, experimentier-freudige, forschungslustige Ungarn nach Europa aus. Viele von ihnen unterbrachen, genau wie Sie, ihre Route nach Wien, Berlin, Paris oder Rom, um eine zeitlang in den Ateliers des Bauhaus zu arbeiten. Erkennen Sie keinen Zusammenhang, irgendeine ungarische Richtung unter der im Bauhaus entstandenen Richtungen der konstruktivistisch-abstrakten Malerei?" „Doch, unbedingt. Doch bei der Antwort muss ein weiterer Problemenkreis berührt werden. Wie lange darf man die Kunst eines aus Ungarn stammenden Künstlers noch als ungarische Kunst sehen? Das Bauhaus war der Ausgangspunkt und das Sammelbecken mehrerer konstruktivistisch-abstrakier Richtungen. Das ist selbstverständlich, da wir die Malerei, die Bildhauerei, die verschiedenen Zweige der Innenarchitektur als angewandte Bestandteile der Architektur erfassten. Infolgedessen probierten wir alle jeweils andere Möglichkeiten innerhalb der festgelegten Formen, der streng funktionellen Gegebenheiten aus. Und blickt man hinter die äussere Rinde des Konstruktivismus, erkennt man, die Persönlichkeiten mit grösserer Initiative verdichteten in ihren selbständigen Richtungei eine Art nationaler Folklore oder idealer Tradition. Ein Mondrian-Doesburg-Leck genannter holländischer Konstruktivismus ist bekannt, mit streng definiven mathematischen Lösungen, in klarer, kühler Logik aufgebaut; der russische Konstruktivismus von Kandinski Malewitsch, Lissizki, Tatlin, Rodschenko, Pewschner'und Gabo spiegelt den Osten, er ist reich an Gefühlsmomenten und enthält ein politisch-ideologisch-agitatives Programm. Ungarischer Konstruktivismus Und auch ein ungarischer Konstruktivismus ist bekannt, den Kassak einleitete, und der über György Kepes, Alferd Forbáth, Marcell Breuer, László Moholy-Nagy und Miklós Schöffer bis zu Vasarely heranreifte. Es wäre ein Unsinn, wollte man in den Werken dieser Künstler pragmatische Elemente der ungarischen Folklore suchen. In einzelnen findet man sie: Vasarelly gibt einigen seiner Bilder die Namen ungarischer Dörfer und Landschaften als Titel, einige seiner älteren Werke folgen den Kompositionsgesetzen und den Farbschemata der Siebenbürger Gewebe und Stickereien, seine bewussten ornamentalen Initiativen und sein Proportiosnssinn gemahnen an die Ornamente des Siebenbürger Szekler Baustils; die geschmeidigen, verschnörkelten Metallplastiken Schöffers lassen die Linien und die Zeichentechnik des ungarischen Jugendstils erkennen, bei den anderen findet man aber keine derart auf der Oberfläche erkenntliche Verwandschaft. Obwohl ich nicht streng zu diesen Künstlern gehöre, erkannte ich selbst an einer meiner fertigen Skulpturen die Ornamente und Kerben der typischen reformierten Grabmäler aus dem Komitat Somogy, doch erschien dieses Ungarntum' ungewollt und spontan. Auf diese Weise, tief und immanent, steckt auch in den Richtungen der erwähnten konstruktivistisch-abstrakten Maler der ungarische Charakter. Näher: er offenbart sieh zu der Qualität, heute nicht mehr folkloristisch, wie in der ersten Hälfte des Jahrhun, derts bei Bartók, Stravinsky und ihren Weggefährten als ein ideelleskünstlerisches Programm, doch lässt sich beispielsweise in den Zeichnungen von Lajos Vajda das prawoslawische Szentendre und Umgebung, in den Skulpturen Brancusis die rumänischen Gitter und Grabkreuze oder bei Picasso die spanische Folklore nachfühlen. Ich meine, die besagten. Künstler seien zwar ungarischer Abstammung, auch ihr abstrakter Konstruktivismus habe einen ungarischen Charakter, im grossen und ganzen machen sie doch keine par excellence ‚ungarische' Kunst.' In ihrer Eigenart als Ungarn sind sie Bestandteile der universellen Kultur."